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Ganz will ER uns und ganz werden wir sein

Predigt zu 2. Kor 5, 1-10
(Volkstrauertag).

von
Brigitte Gensch


Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und er da kommt!

Liebe Gemeinde!

Irgendein Tag vor gut 55 Jahren. Irgendeine Front. Ein Soldat sagt zum anderen:
"Du mußt jetzt gehen, und denk daran, daß ihr ihn mitnehmt, er liegt vorne an der alten Flakstellung. Weißt du, es ist ein Halber, in einer Zeltbahn:"
Der Soldat macht sich auf und geht, bis er die zerschossene Baracke der alten Flakstellung findet. Dort, wo das Geschütz gestanden hatte, klafft ein dunkles, viereckiges Erdloch. Nahebei hocken auf alten Munitionskisten drei Soldaten – wie große, stumme Vögel in der Nacht. Kein Wort fällt, kein Laut ist zu hören.
In ihrer Mitte liegt ein Bündel in einer Zeltbahn, ein Bündel aus Fleisch und Knochen, ehemals ein Mensch, jetzt eine formlose Masse.
Der hinzugekommene Soldat hockt sich auch nieder, auf einen Stapel alter Munitionshülsen. Niemand rührt sich, man wartet und brütet. Ab und an wandert der Blick zum stummen und dunklen Bündel in der Mitte. Endlich durchbricht der Zugmelder das Schweigen: "Sollen wir gehen?" Er tritt als erster an das Bündel heran, dann sagt er, indem er sich bückt:
"Jeder nimmt eine Ecke, es ist ein junger Pionier, ein halber Pionier."
Die vier Soldaten ergreifen je eine Ecke der Zeltbahn. Sie schleppen sich vorwärts, dem Dorfrand entgegen. Jeder Tote ist so schwer wie die ganze Erde, aber diese halbe wiegt so schwer wie die Welt...

Liebe Gemeinde,
die Geschichte, deren ersten Teil ich Ihnen gerade erzählt habe, stammt von Heinrich Böll.

Sie trägt den Titel "
Die Essenholer". Wenn man sie heutzutage liest, mag man sich schon fragen: warum nur bringen die vier Männer sich in Lebensgefahr, um dieses Bündel, diesen halben Pionier zu bergen? Sicher, es ist eine Pflicht der Pietät, Tote zu bestatten. Und es ist ein Trost für die Angehörigen, ein Grab zu kennen, wohin sie ihre Trauer wenden können.

Aber in Kriegszeiten, in solchen Kriegszeiten mit tausenden und abertausenden zerfetzten und verstümmelten Leibern – kommt es da auf einen halben Leib, auf einen halben Pionier an?

Da sagen wohl die einen: "Mit dem Tod ist alles aus – also ist es gleichgültig, was mit den Überresten geschieht!"

Und da sagen wohl andere: "Auf die unsterbliche Seele des Menschen kommt es an, die ist das Wichtigste – der Leib mag vergehen, unwichtig ist er!"

Merkwürdig, nicht wahr? Zwei ganz unterschiedliche Positionen treffen hier aufeinander, aber im Ergebnis finden sie sich. Denn beide Meinungen nehmen den Toten ihre Bedeutung.

Wer meint, mit dem Tod sei alles aus, der riegelt die Toten gegen jede Zukunft ab. Wer jenseits des Todesgrabens nichts mehr sieht und erhofft, biegt alles auf das Leben hier und jetzt zurück. Alles muß dann den Möglichkeiten des Daseins hier und jetzt abgepreßt werden: nur nichts verpassen, nur ja sich nichts wegnehmen lassen, nur ja alles sichern, versichern und schützen – vornehmlich auch gegen andere Menschen: diese bedrohlichen Konkurrenten, die miteinander oder besser gegeneinander um den Kuchen des maximalen Lebensglücks streiten. Gier und Angst beginnen dann, das Leben zu vergiften.

Wer gierig ist, stellt die Augenblicke seines Lebens unter Erfolgszwang.
Jetzt muß sie sich doch einstellen – die Erfüllung; jetzt muß er doch kommen – der große, intensive, hinreißend-schöne Augenblick, in dem alles Verlangen gestillt wird.
Es wird aber nicht gestillt, stattdessen breiten sich Ödnis und Enttäuschung aus.
Gleich erwacht die Gier aufs Neue, eine neue Gelegenheit zu erjagen – vergeblich auch diesmal.
Und immer wird die Gier von der Angst begleitet, wie von einem Schatten.
Von der Angst: daß hinter jeder erjagten Gelegenheit, hinter jedem so schwer erlangten Genuß doch schon der Abgrund des Endes lauern könnte.

Lebensgier und Todesangst: ein unheilvolles Geschwisterpaar sind sie; die Angst vor dem drohenden Ende steigert die Gier, und an der unerfüllbaren Gier gewinnt die Angst neue Nahrung.
"Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot" – dies Wort des Propheten Jesaja trifft auch auf unsere gegenwärtige Gesellschaft zu: diese spaß- und eventgierige Gesellschaft. Ohne Not verschleudert sie die Güter dieser Erde, als sei sie nicht G"ttes gute Schöpfung. Ohne Gedächtnis vernutzt sie das, was vergangene Generationen erstritten oder wofür sie gelitten haben.

Ohne Verantwortung für die kommenden Generationen fällt sie jetzt Entscheidungen, die in der Zukunft nicht mehr zu korrigieren sein werden.
"Mit dem Tod ist alles aus" – Verzweiflung spricht aus diesem Satz, eine Verzweiflung, die das Leben und die Lebensbedingungen vergiftet, zuznehmend.

Und die andere Position? Diejenige, die an die Unsterblichkeit der Seele glaubt, aber für unwichtig hält, was mit dem Leib geschieht?

Nicht Gier und Angst schwingen hier die Peitsche, dafür macht sich eine träge Gleichgültigkeit breit: solange meine Seele nicht in Mitleidenschaft gezogen wird, solange und soweit ist alles erlaubt. Der Tod kann mir nichts anhaben, er trifft ja nicht meine Seele, die unsterbliche, nur meinen Leib, den unwesentlichen. Überhaupt ist der Tod nichts Wesentliches, mag er auch die Leiber fressen und die Welt vernichten. Selbst das atomare Feuer können wir also in Kauf nehmen, selbst den Weltenbrand. Auch die Bilder von Hiroshima müßten uns nicht mehr schrecken; Photographien, auf denen ein schwarzer Schatten zu sehen ist – da, wo eben noch ein Mensch stand. Auch diese schwarzen Schatten müßten uns nicht schrecken, da doch die Seelen unsterblich sind.

"Auf die unsterbliche Seele kommt es an" – nicht Verzweiflung, wohl aber eine fahrlässige Gleichgültigkeit spricht aus dieser Überzeugung. Weil der Tod nicht ernst genommen wird, überläßt man den Mächten des Todes das Feld - und so frißt sich der Tod ins Leben hinein.

Und was glaubt Paulus? Hören wir noch einmal auf den Predigttext....

Leidenschaftlich also wendet sich Paulus gegen die beiden dargestellten Glaubensweisen. Der Tod ist nicht das Ende – das wissen wir Christen, sagt Paulus. Wir wissen es, weil G"tt den toten Jesus von Nazareth auferweckt und zu neuem, unzerstörbarem Leben befreit hat. Jenseits der Todesgrenze gibt es nun für uns etwas zu hoffen. Unser ganzes Dasein hat ein Ziel, unser ganzes Leben eine Richtung gewonnen. Und gegen die prächtigen Gemächer der himmlischen Wohnung mag sich unsere irdische Behausung wie eine armselige Hütte ausnehmen; ziemlich windschief und fragil. Und weil wir an dem auferweckten und verherrlichten Christus gelernt haben, hinüber zu hoffen in eine bessere Welt, deshalb seufzen wir und sehnen uns; möchten eben gleich auswandern aus dem irdischen Jammertal, um heimzukommen, daheim zu sein – dort bei Christus und dem Vater.

Bedient Paulus also doch das Klischee vom weltflüchtigen Christen, der die armselige Hütte seines sterblichen Leibes lieber jetzt als gleich gegen das ewige Haus der unsterblichen Seele eintauschen möchte?

Nein, das tut Paulus nicht. So ernst wie er das Leben in all seiner Unerlöstheit, in all seinen Leiden nimmt, so ernst nimmt er auch den Tod. Am Tod stirbt der ganze Mensch, nicht nur der halbe Mensch des Leibes.

Und G"tt bietet Seine ganze Lebenskraft auf, um - wie einst die Welt aus dem Nichts – so auch die Toten aus dem Tod aufzuerwecken. Er bot Seine Lebenskraft auf, als Er den einen Menschen, Jesus von Nazareth, auferweckte, Er wird sie aufbieten, wenn dereinst alle Sterblichen mit dem neuen, unzerstörbaren Leben bekleidet werden.

Und wie wird das sein, das neue Leben?

Paulus sagt uns nichts Genaues; wie sollte er auch: denn wir sind alle noch nicht am Ziel, sondern unterwegs. Aber eines ist gewiß: in seelischer Nacktheit werden wir G"tt nicht unter die Augen treten. Nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wir sein. Kein Leben, auch kein ewiges und zukünftiges, ohne Leib – das hält Paulus fest.

Noch aber sind wir unterwegs, unterwegs mit diesem Leib. Alles auf diesem Weg ist wichtig: alle unsere Schritte, alle unsere Werke. Wenn wir G"tt dereinst unter die Augen treten, so wird Er nicht nur auf die Absichten unserer Seelen, sondern auch auf die Werke unserer Leiber schauen: auf den ganzen Menschen, auf Leib und Seele, wird Er schauen und dann Sein Urteil sprechen.

Und was könnte uns auf diesem Weg Kompaß und Wegweiser sein?

Paulus sagt: G"tt, der uns auf den Weg zu Ihm hin gestellt hat, der hat uns den Geist als Angeld gegeben. Der Geist tröstet uns und gibt uns Konkretes zu hoffen, über den Abgrund des Todes hinüber zu hoffen. Wohl ist der Tod ein Ende, das letzte Wort hat er nicht. So bewahrt uns der Geist vor der Lebensgier und Todesangst, dem Leben hier alles abpressen zu müssen – weil morgen doch schon alles aus sein könnte. So gewährt der Geist eine freie Leichtigkeit, die man auch Gelassenheit nennen mag.

Der Geist bewahrt uns aber auch vor dem anderen Extrem: der fahrlässigen Gleichgültigkeit. Wir könnten nämlich so einfach uns in der Sicherheit des ewigen Lebens bergen, ohne zuvor dieses Leben zu bestehen – wir könnten so ohne alle Mühe beim Letzten sein, ohne das Vorletzte zu durchschreiten. Denn der Geist G"ttes gewährt die Geduld auszuharren und die Aufmerksamkeit, das zu erkennen, was je konkret zu tun ist.

Woran ist der junge Pionier gestorben? Sicher, an einer Granate. Aber mehr noch an dem Ungeist, der tödliche und immer noch tödlichere Waffensysteme ersinnt. Am Glauben, mit dem Tod sei alles aus und deshalb müsse das kurze Leben mit allen Mitteln, und seien es die tödlichsten, geschützt werden, an diesem Glauben ist der Junge gestorben. Und auch an dem anderen Glauben:
weil die Seele unsterblich sei, deshalb müsse man der Gewalt des Todes hier auf Erden nicht entgegentreten – auch daran ist der Junge gestorben.

Liebe Gemeinde,
ich bin Ihnen noch den Schluß der Erzählung Bölls schuldig.
Wie ein Kommentar zu Paulus mutet der Schluß an.

Die vier Essenholer schleppen die Zeltbahn mit dem toten Pionier, als sich das Folgende zuträgt, geschildert aus der Perspektive der vierten, hinzugekommenen Soldaten:
"Abschuß und Heransausen der Granate hatte ich nicht gehört;
die Explosion zerriß alle Gespinste traumhafter, halbbewußter Qual, mit leeren Händen starrte ich ins Leere...Mit einer fast wesenlosen, neugierigen Spannung wartete ich darauf, daß irgendwo an meinem Körper sich ein Schmerz melden oder das Fließen warmen Blutes spürbar werden würde; nichts, nichts von dem; aber plötzlich spürte ich, daß meine Füße halb über einem Hohlraum standen, daß meine Fußspitzen bis zur Hälfte des Fußes im Leeren schwankten, und da ich mit der nüchternen Neugierde eines Erwachsenen niederblickte, sah ich, schwärzer als die Schwärze ringsum, einen großen Trichter zu meinen Füßen...
Ich ging mutig nach vorne in den Trichter hinein, aber ich fiel nicht und sank nicht; weiter ging ich, immer weiter auf wunderbar sanftem Boden unter dem vollendeten Dunkel des Gewölbes...bis der große gelbe, glänzende Stern vor mir aufstieg und sich am Gewölbe des Himmels festpflanzte; und leise strahlend fanden sich auch paarweise die anderen Sterne ein, die sich nun zu einem Dreieck zusammenschlossen. Da wußte ich, daß ich an einem anderen Ziele war und wahrheitsgemäß vier und einen halben würde melden müssen, und als ich lächelnd vor mich hinsagte: viereinhalb, sprach eine große und liebevolle Stimme: fünf!"

Der G"tt de Bibel macht keine halben Sachen, Er will keine halben Menschen und keine halben Leiber. Ganz will Er uns und ganz werden wir sein – dereinst vor Seinem Thron.
Amen.

Und der Friede G"ttes, der höher ist als all unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

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