Die Geschichte spielt auf dem Höhepunkt
einer Krisensituation: Jakob, lange Jahre im Exil
Mesopotamiens, macht sich auf, in das Land seiner Väter
zurückzukehren. Er muß gewärtigen, mit seiner
schuldhaften Vergangenheit konfrontiert zu werden und auf
seinen unversöhnten Bruder Esau zu treffen. Jenseits und
diesseits des Flusses Jabbok liegen gleichsam Jakobs
Vergangenheit und Zukunft. Für die Begegnung mit Esau rüstet
sich Jakob auf dreierlei Weise: mit Geschenken, mit Gebet
und mit der Zurüstung zum Kampf, und nach rabbinischer
Auslegung soll Israel es immer so mit seinen Feinden
halten.Krisensituationen sind immer ausgezeichnete
Augenblicke; oft vereinzeln sie und werfen den Menschen
auf seine Furcht und Einsamkeit zurück. Auch Jakob hat
die Furcht gepackt. Aber seine Furcht verschließt ihn
nicht in sich selbst, sondern er findet die Kraft zum
Gebet: er ruft den Ewigen, den G"tt der Väter an, reißt
den ganzen geschichtlichen Horizont der G"ttlichen Verheißungen
auf und bettet seine eigen Lebensgeschichte in die "große"
Geschichte G"ttes mit Seinem Volk ein. Übrigens ist es
in V.10 (V.11 in der Lutherbibel) zum ersten Mal in der
Hebräischen Bibel so, daß sich jemand vor G"tt als
Seinen Knecht bezeichnet, alle Stellen zuvor waren keine
Selbst-, sondern Fremdbezeichnungen: G"tt nennt Abraham
Seinen Knecht (1. Mose 26,24), der älteste Knecht
Abrahams nennt Isaak "Knecht G"ttes". Hier im
Gebet Jakobs bezeichnet sich erstmals ein Mensch betend
als G"ttes Knecht.
Etwas
Korrespondierendes ereignet sich einen Vers zuvor: aus
der Gebetsnot heraus ruft Jakob den G"tt der Väter als
DEN NAMEN (das Tetragramm: JHWH) an. Er ruft G"tt in
Seiner unverwechselbaren, eigenen Identität, mit Seinem
Eigennamen an: daß Er nun auch für Jakob G"tt sei. So
wie sich Jakob G"tt zueignet, Sein Knecht zu sein ("dein
Knecht", V.10), so eignet sich Jakob G"tt in Seiner
Unverwechselbarkeit zu, nicht mehr nur G"tt der Väter,
sondern nunmehr sein G"tt zu sein. Damit löst Jakob sein
Gelübde ein, vgl. 1.Mose 28, 21: wenn G"ttes Verheißungen
erfüllt werden, dann wird DER HERR mein G"tt sein. Nicht
umsonst hat Jakob den G"ttlichen Eigennamen in der Fremde
bis auf eine Ausnahme (30, 30) nicht gebraucht.
Das, worum
Jakob bittet, die Rettung aus Esaus Hand, wird ihm im
Kampf mit dem Engel gewährt. Rettung bedeutet hier:
Konfrontation und Auseinandersetzung mit der schuldhaften
Vergangenheit, mit dem unversöhnten Bruder. Der Engel
tritt als Esaus "Anwalt", als "Satan"
im bibl. Sinne (vgl. Buch Hiob) auf, als derjenige, der für
Esaus Sache gegen Jakob antritt.
Der Kampf
zeitigt zwei Ergebnisse: einmal wird Jakob fürs Leben
hinken, weil seine "Spannader", die Hüftsehne
verletzt wurde. Hinkend wird er Esau gegenübertreten,
also wehrlos und versehrt gerade an dem Körperteil,
"mit dem" Jakob seinem Bruder Schaden zufügte:
Jakob, d.h. "Fersenhalter" oder "der
Hinterlistige", der "Schleicher", der den
Bruder zweimal beschlichen und hintergangen hat (vgl. 1.
Mose 27, 36), der den Bruder schon im Mutterleib um sein
Erstgeburtsrecht bringen wollte (1.Mose 25, 26). Die
Verletzung der Hüftsehne wird rabbinisch aber auch noch
so verstanden: Jakob büßt seine Selbständigkeit ein,
die Spannader wird mit dem "Gesäuerten" (Brot
im Unterschied zu Mazza, die ungesäuert ist) verglichen,
das für die menschliche Unabhängigkeit steht und damit
für die Gefahr, sich von G"ttes Leitung, Segen und Gnade
loszusagen.
Das zweite
Resultat des Engelkampfes besteht in der Verheißung der
Namensänderung. Der Engel kann den Namen nicht ändern,
wohl aber kann er ansagen, daß G"tt den Namen Jakobs ändern
wird; die Änderung geschieht dann 1.Mose 35, 10: aus
Jakob, dem Hinterlistigen , wird "Israel". Zwar
bleibt der Eigenname "Jakob" erhalten, aber er
verliert seine programmatische Kraft; der Segen, der von
nun an Jakob zuteil werden wird, ist kein erschlichener
mehr, sondern ein offen, öffentlich zuerkannter (Rashi,
der große rabb. Kommentator verweist darauf, daß im
Wort "Israel" auch das Wort "Sar"= Fürst
steckt).
Der Kampf,
die Auseinandersetzung mit der schuldhaften
Vergangenheit, geschieht nicht zufällig des Nachts, in
der Vereinzelung und Einsamkeit; dieser Kampf ist
unvertretbar und notwendigerweise ohne Öffentlichkeit.
Dann aber
kommt die Morgenröte eines neuen Tages. Zuversichtlich
und mutig tritt Jakob seinem Bruder entgegen, er geht
seiner Familie und seiner Habe voraus. Hinkend, gleichsam
entwaffnet und schwach begegnet er dem Bruder: G"ttes Stärke
ist wieder einmal in den Schwachen, in einem Schwachen.
Jakob kann zuversichtlich sein, denn ihm ist eine weitere
Verheißung, die eines neuen Namens, zuteil geworden.
Sicher kann er sich nicht sein, daß sein Bruder zur Versöhnung
bereit ist. Zwar hat er seine vergangene Schuld mit dem
G"ttlichen Ankläger, dem Engel Esaus, ausgetragen und so
seine Schuld vor G"tt gebracht, aber die Vergebung durch
den Bruder steht noch aus. Anders gesagt: auch unsere
Geschichte in 1.Mose 32 und 33 lehrt, daß das
Schuldeingeständnis vor G"tt die Vergebung, die ich von
meinem und von mir geschädigten Nächsten erbitte, nicht
ersetzen kann. Beide Beziehungen müssen zusammenkommen,
die Beziehung zu G"tt und die zu meinem Nächsten.
Daß und
wie G"tt und mein Anderer zusammengehören, ist auch in
dem in unserer Geschichte häufig gebrauchten Bild des
Angesichtes hinterlegt: in 32, 20 kommt das hebr. Wort für
Antlitz, "panim", gleich viermal vor. Der Vers
lautet: "ich will sein (Esaus) Antlitz bedecken
durch das Geschenk, das vor meinem (Jakobs) Antlitz
vorausgeht, hernach will ich sein Antlitz sehen,
vielleicht wird er mein Antlitz erheben" (= mir gnädig
sein, mich als Person anerkennen). Als Folge der Bewährung
im Engelkampf heißt es, daß Jakob den Ort des Kampfes
"Pniel", d.h. "G"ttesantlitz" nannte
(analog dazu 1.Mose 22: auch der Ort der Bewährung
Abrahams wird "G"ttessicht", "Moria",
genannt). Und 1.Mose 33, 10 sagt Jakob zu Esau: "ich
habe dein Antlitz gesehen wie man G"ttes Antlitz sieht (wie
ich G"ttes Angesicht gesehen habe), und du warst mir
wohlgefällig."
Als und
nachdem die Schuld bedeckt ist, wird es den Versöhnten möglich,
einander ins Angesicht zu sehen, und G"ttes Angesicht
leuchtet gerade auch denen, die sich mit den dunklen
Seiten der eigenen Lebensgeschichte auseinandersetzen.
18.02.2001
1. Mose 32 (Ü:
Buber Rosenzweig)
32 1 Frühmorgens machte sich Laban auf,
er küßte seine Enkel und seine Töchter und segnete
sie,
dann ging Laban und kehrte an seinen Ort zurück.
2 Wie Jaakob seines Wegs ging,
trafen Boten Gottes auf ihn.
3 Jaakob sprach, als er sie sah:
Ein Heerlager Gottes ist dies!
Und er rief den Namen jenes Ortes: Machanajim,
Doppellager.
4 Jaakob sandte nun Boten[A] vor seinem Antlitz her
zu Essaw seinem Bruder nach dem Lande Sseïr, in
Edoms Gefild,
A)
Beginn eines Wochenabschnitts der Tora (Abschnitte
der sabbatlichen Lesung).
5
und gebot ihnen, sprechend:
So sprecht zu meinem Herrn, zu Essaw:
So hat dein Knecht Jaakob gesprochen:
Bei Laban gastete ich und habe bis jetzt gesäumt,
6 mir ist Ochs und Esel, Kleinvieh, und Knecht und
Magd geworden,
nun sende ich, meinem Herrn es zu melden, Gunst in
deinen Augen zu finden.
7 Die Boten kehrten zu Jaakob wieder, sprechend:
Wir sind zu deinem Bruder, zu Essaw gekommen,
aber schon geht er dir entgegen, vierhundert Mann bei
ihm.
8 Jaakob fürchtete sich sehr, ihm wurde bang.
Er teilte das Volk das mit ihm war, und Kleinvieh und
Rind und Kamele, zu zwei Lagern
9 und sprach:
Kommt Essaw ans eine Lager und schlägt es, bleibt
dem restenden Lager ein Entrinnen.
10 Dann sprach Jaakob:
Gott meines Vaters Abraham,
Gott meines Vaters Jizchak,
DU,
der zu mir sprach: Kehre zu deinem Land, zu deiner
Verwandtschaft, ich will dir Güte erweisen!
11 Zu klein bin ich all den Hulden und all der Treue
die du an deinem Knechte tatest,
mit meinem Stab ja überschritt ich diesen Jordan,
und jetzt bin ich zu zwei Lagern geworden!
12 O rette mich doch aus der Hand meines Bruders, aus
Essaws Hand!
Denn ich bin in Furcht vor ihm,
daß er kommt und mich schlägt, Mutter über Kindern.
13 Du selbst aber hast gesprochen:
Güte will ich dir, Güte erweisen,
will deinen Samen machen wie Sand des Meers, der vor
Menge nicht gezählt werden kann.
14 Er nächtigte dort in jener Nacht
und nahm von dem was ihm zur Hand gekommen war eine
Spende für Essaw seinen Bruder,
15 zweihundert Ziegen und zwanzig Böcke,
zweihundert Mutterschafe und zwanzig Widder,
16 dreißig säugende Kamele samt ihren Jungen,
vierzig Färsen und zehn Farren,
zwanzig Graustuten samt zehn Fohlen,
17 und übergab sie in die Hand seiner Knechte, Herde
um Herde besonders,
und sprach zu seinen Knechten:
Schreitet vor meinem Antlitz her und legt Raum
zwischen Herde und Herde.
18 Er gebot dem ersten, sprechend:
Wenn mein Bruder Essaw auf dich stößt
und fragt dich, sprechend: Wessen bist du, wohin
gehst du, wessen sind diese vor dir?
19 sollst du sprechen:
Deines Knechts, Jaakobs, eine Spende ists, gesandt
meinem Herrn, Essaw,
und da, er selber auch ist hinter uns.
20 Auch dem zweiten gebot er, auch dem dritten, allen
auch die hinter den Herden gingen, sprechend:
Nach dieser Rede sollt ihr zu Essaw reden, wann ihr
ihn findet,
21 und sollt sprechen: Da, auch dein Knecht Jaakob
ist hinter uns.
Denn er sprach zu sich:
Bedecken will ich sein Antlitz mit der Spende, die
vor meinem Antlitz geht,
danach will ich sein Antlitz sehn,
vielleicht hebt er mein Antlitz empor.
22 Die Spende schritt seinem Antlitz voraus,
er aber nächtigte in jener Nacht im Lager.
23 In jener Nacht machte er sich auf,
er nahm seine zwei Weiber, seine zwei Mägde und
seine elf Kinder
und fuhr über die Furt des Jabbok,
24 er nahm sie, führte sie über den Fluß und fuhr
über was sein war.
25 Jaakob blieb allein zurück. -
Ein Mann rang mit ihm, bis das Morgengrauen aufzog.
26 Als er sah, daß er ihn nicht übermochte,
rührte er an seine Hüftpfanne,
und Jaakobs Hüftpfanne verrenkte sich, wie er mit
ihm rang.
27 Dann sprach er:
Entlasse mich,
denn das Morgengrauen ist aufgezogen.
Er aber sprach:
Ich entlasse dich nicht,
du habest mich denn gesegnet.
28 Da sprach er zu ihm:
Was ist dein Name?
Und er sprach:
Jaakob.
29 Da sprach er:
Nicht Jaakob werde fürder dein Name gesprochen,
sondern Jissrael, Fechter Gottes,
denn du fichtst mit Gottheit und mit Menschheit
und übermagst.
30 Da fragte Jaakob, er sprach:
Vermelde doch deinen Namen!
Er aber sprach:
Warum denn fragst du nach meinem Namen!
Und er segnete ihn dort.
31 Jaakob rief den Namen des Ortes: Pniel,
Gottesantlitz, denn:
Ich habe Gott gesehn,
Antlitz zu Antlitz,
und meine Seele ist errettet.
32 Die Sonne strahlte ihm auf, als er an Pniel vorüber
war,
er aber hinkte an seiner Hüfte. -
33 Darum essen die Söhne Jissraels bis auf diesen
Tag die Spannader nicht, die auf der Hüftpfanne
liegt,
denn an Jaakobs Hüftpfanne an der Spannader hat er
gerührt.
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