Gnade sei mit euch und Friede von dem, der
da ist und der da war und der da
kommt. Amen
Liebe Gemeinde!
Ein Herr und ein Knecht; nicht irgendein Herr und nicht
irgendein Knecht, sondern der HERR, der ewige G"tt, Schöpfer
des Himmels und der Erde, und Sein Knecht, Sein erwähltes
Volk Israel. Und so spricht der HERR:
Seht her, ihr Völker, dies ist mein Knecht Jakob,
an den sich meine Seele bindet. Kenntlich und anrufbar
machte ich mich, seit ich meinen Namen an den meines
Knechtes band:
Ich, der Ewige, der G"tt Abrahams, Isaaks und Jakobs.
Mehr noch: ob ich bin oder ob ich nicht bin, das wird
vom Zeugnis meines Knechtes abhängen. Wenn er mich
bezeugt, so bin ich der ewige G"tt. Ist er aber nicht
mein Zeuge, so bin ich auch nicht. So stütze ich mich
auf ihn.
Mein Wort und meine Weisung, die heilige Tora, gebe ich
meinem Knecht und den Geist, sie recht und neu und immer
wieder neu auszulegen. Nicht zu seinem intellektuellen
Vergnügen gebe ich sie ihm, nicht daß er sie allein für
sich genieße, vielmehr soll er meine Weisung zu euch, zu
den Völkern bringen.
Die Mission meines Knechtes wird nicht laut und
marktschreierisch sein, sie wird sich der Gewalt und des
Schwertes enthalten.
Er wird sich vom Glanz des Erfolges -so wie ihn die Welt
verehrt - nicht blenden lassen. Der Faszination der Macht
wird er nicht erliegen, denn mit der Gnade der
Machtlosigkeit habe ich Jakob, meinen Knecht, begnadet.
Weltpolitisch wirkungslos, unaufdringlich und fast
unscheinbar wird er die Wege der Tora gehen, meine Gebote
halten, an den Überlieferungen festhalten; Generation für
Generation - eine schmale Spur der Weltgeschichte, stets
gefährdet, verweht und ausgelöscht zu werden.
Und deshalb wird sich mein Bote auch derer annehmen,
deren Leben gefährdet ist, unter die Räder der Macht zu
geraten. Solidarisch hält er sich zu allen, deren Leben
beschädigt und geknickt und dem Verlöschen nahe ist.
Denn dies Leben ist wie das meines Knechtes. So wird der
Bote der Botschaft gleich sein, und beide werden
bezeugen, wer ich bin: der ewige G"tt, der das Recht
liebt, Gebundener Fesseln löst und aus den Kerkern
herausführt, der befreit und Blinder Augen auftut.
Und
damit euch Völkern, die ihr im Finstem wandelt, ein
Licht, mein Licht aufgehe, deshalb zerstreue ich mein
Volk Israel unter euch Völker. Denn nicht nur vom Hörensagen
und aus Büchern sollt ihr mich kennenlernen, sondern
noch einmal anders will ich euch nahe sein - im
lebendigen und leibhaften Zeugnis meines Knechtes Jakob
unter euch, in eurer Mitte.
Ihr
werdet an meinem Knecht Anstoß nehmen, auch das weiß
und sehe ich. Aber wie ihr ihm auch zusetzen werdet, das
Eine wisset: zerbrochen wird das Rohr nicht, nicht verlöschen
der Docht. Denn ich selbst halte an meinem Knecht fest,
ich halte ihn an meiner Hand, ihn vor Vemichtungswut und
Mörderhaß zu retten und unter meinen Fittichen zu
bergen. Und am Ende aller Tage, wenn aller Haß sich
ausgetobt hat und ihr aus eurem Haß weg- zu mir
umgekehrt seid, dann werdet ihr euch an die Rockzipfel
Israels hängen und hierher zum Zion
und nach Jerusalem gelaufen kommen - um meine Weisung zu
lernen und um den Krieg zu verlernen."
So spricht der HERR.
Und was sagt der Knecht?
"' Gelobt seist du, Ewiger, unser G"tt, König
der Welt, der uns aus allen Völkern erwählt und uns
Seine Tora gegeben hat'.
Ach Herr, du weißt doch selbst am besten, wie oft dir
dein Knecht, wie oft wir dir für deine Erwählung
gedankt haben, dafür, daß du uns zum Dienst bestellt
hast, von dir und deinen Weisungen zu erzählen.
Und wir möchten nicht nachlassen, dich so in unseren täglichen
Gebeten zu loben.
Aber bleischwer liegt deine Hand auf uns, untragbar
schwer lastet das Joch der Erwählung auf unseren
Schultern. Du stützt dich auf uns, wir aber haben Angst,
die Last zerbreche unser Rückgrat. Du sagst, dein Knecht
wird nicht schreien und laut seine Stimme in den Gassen hören
lassen. Das stimmt.
Es schreien die anderen, aber nicht für uns, sondern uns
und dir zum Hohn: 'Deutschland erwache, Juda verrecke'.
Und für uns schreien die nicht, die doch auch das Joch
der Erwählung zu tragen glauben; die ganze Christenheit
und ihre Kirchen.
Und die wenigen, die da meinen, nur der dürfe
gregorianisch singen, der auch seinen Mund für Israel
auftue, die allzu wenigen macht man mundtot.
'Um
deinetwillen werden wir hingewürgt Tag für Tag und sind
geachtet wie Schlachtschafe' (PS 44, 23).
Seit
altersher beten und rufen wir so zu dir. Und du erhörtest
uns und halfst uns aus unserer Bedrängnis und gegen
unsere Bedränger.
Jetzt aber sind wir schon so lange, zu lange ohne ein
Zeichen, du seist uns auch diesmal treu und unser G"tt,
der uns nicht verlöschen läßt. Deine Rettungstaten -
unklar verschwommen in einer fernen Vergangenheit; das
Brot der Erinnerung, von dem wir essen, es geht zur Neige
-Herr, wir verhungern!
Du sprichst zu den Völkern und du weißt um ihre Mißgunst,
sagst du. Aber kann es sein, daß du vielleicht doch zu
gut für deine Schöpfung bist? Daß deine Allgüte für eine solche
Vemichtungswut nicht hinreicht, wie sie jetzt sich Bahn
gebrochen hat?
Oder wenn deine Allgüte nicht versagt, dann vielleicht
dein Allwissen, und wenn nicht
dein Wissen, dann aber doch deine Allmacht?
Verzeih, Ewiger, wir kennen uns mit dir
nicht mehr aus, unser Geist wird an dir irre.
Ja, du hast uns den Geist gegeben. Aber wisse: schnell
verliert der Menschengeist seine Spannkraft über das bloße
Hier und Jetzt hinaus, wenn man dem Menschen an den Leib
geht. Als sie uns den ersten Schlag versetzten und als
sie uns die Lagernummem auf den linken Unterarm tätowierten,
da waren wir nur noch Fleisch. Nur Knechten und Tieren,
die zur Schlachtung bestimmt sind, drückt man ein solch
unauslöschliches Brandmal auf- so werden wir es also
tragen, dieses Erwählungszeichen von Auschwitz.
Ich höre
nun auf, mit dir zu sprechen, denn sie kommen, uns zu
holen. Sie kommen, um uns noch einmal zum Licht der Völker
zu machen. Wenn sie unsere toten Leiber in ihre Öfen,
in die Krematorien werfen, wird der Nachthimmel hier im
Osten der Welt feuerrot-hell erglühen. Dann wird es
wieder nachtdunkel werden, und wenn die letzte Glut
verloschen ist, wird man unsere und aller anderen Opfer
Asche in den nahegelegen See werfen - ein Teich nur aus
Menschenasche: sie sei dir allezeit vor Augen.
Bleischwer liegt deine Hand auf uns. Aber schwerer noch
drückt uns deine Abwesenheit nieder.
Unser Vater, unser König - an wen, wenn nicht an dich,
soll sich unser Flehen richten? Und um was können wir
dich noch bitten?
Nicht darum bitte ich dich, mit dem Leben davonzukommen,
zu perfekt und zu reibungslos ist die Tötungsmaschienerie.
Sondern darum bitte ich dich, du mögest deinen Kindern
dein Antlitz wieder zuwenden, und sei es im allerletzten
Augenblick ihres Verlöschens."
Liebe Gemeinde,
für heute habe ich Ihnen eine > Foto-Zusammenstellung
(nicht mehr online) < mitgebracht. Das
erste obere Photo wurde anläßlich der Befreiung des
Lagers Buchenwald gemacht, es zeigt befreite Überlebende
des Lagers. Darunter sehen Sie zwei nahezu identische
Skulpturgruppen, die der amerikanisch-jüdische Künstler
George
Segal
1982 anfertigte. Einmal für das Jewish Museum in New
York, für einen geschlossenen Raum, das andere Mal für
einen öffentlichen Park in San Francisco.
Der
Besucher, der durch den Park geht, wird plötzlich und
unvermutet mit der Shoa, dem Holocaust konfrontiert.
Ein Mann steht am Zaun. Übrigens keine Kunstfigur,
sondern einem wirklich Überlebenden aus Buchenwald
nachgebildet, verkörpert die Gestalt die Hoffnung, zu überleben
und befreit zu werden. Hinter dem Mann liegen insgesamt
10 Figuren in einer bestimmten symbolischen Anordnung auf
dem Boden: nackte, tote Leiber, die - zöge man die Außenlinie
an den Leibern entlang - die Form eines Davidstems bilden.
Einzelne Figuren liegen in einer kreuzartigen Anordnung
und gemahnen so daran, daß Jesus Jude ist.
Die Zehnzahl der Toten weckt aber auch noch einen anderen
Gedanken. Zehn Menschen sind nach jüdischer Überlieferung
notwendig, um einen G"ttesdienst zu feiern, 10 sind vonnöten,
um G"tt im G"ttesdienst zu bezeugen. So verliert die künstlerische
Aussage, absichtlich oder unabsichtlich, ihre
Eindeutigkeit und gerät in die Schwebe.
Das Zeugnis des Überlebens übermag nicht das Zeugnis
des Todes, und umgekehrt gilt dasselbe: nicht wiegt das
Zeugnis des Todes schwerer als das des Überlebens.
Und was bezeugen die Toten? Nichts als
den Tod, schlimm genug.
Denn niemand außer den Toten weiß, ob und wie das verhüllte
Antlitz G"ttes sich enthüllte.
Und das Zeugnis der Überlebenden?
Die Grauen der Vernichtungslager haben Menschen an G"tt
festhalten und an G"tt irre werden lassen. Und niemand,
wirklich niemand, darf deshalb versuchen, aus Auschwitz
ein Argument sich zu formen: für oder gegen G"tt.
Kein Beweis, kein Argument ist den Lagern zu entnehmen.
Im Gegenteil: Auschwitz absorbiert alle unsere
Deutungsversuche und verwandelt sie in sinnloses Gerede -
wie ein schwarzes Loch im Kosmos.
Und so bliebe uns nichts denn unsere Schuld und die Frage
nach der Schuld?
und worin bestünde sie, die Schuld?
Doch darin, daß auch durch unser Tun wie Unterlassen
Israel zu einem guten Teil an seinem G"tt irre geworden
ist.
Wenn
ihr mich bezeugt, so bin ich der Ewige. Seid ihr nicht
meine Zeugen, so
bin ich auch nicht," sagen die jüdischen Weisen (Pes.
R.Kahana 102b).
So hat Auschwitz nicht nur die Glaubenskraft Seines
Volkes geschwächt, es hat G"tt selbst eines Teils Seiner
Zeugen beraubt: seit Auschwitz ist G"tt und ist auch
nicht.
Und so kommt von Auschwitz kein Argument und kein Beweis
her, wohl aber ein Gebot an uns:
>
Weiche der G"ttesfrage nicht aus, sondern
halte sie aus, halte aus, daß G"tt fraglich geworden ist.
>
Laß dich auf die Hoffnung verpflichten und
wehre der Resignation .
>
Suche die Zeichen, sie mögen noch so
unscheinbar sein, daß G"tt Seinen Verheißungen treu
geblieben ist, und weise sie auf.
Tue das alles nicht um deinetwillen, nicht für dein
Seelenheil, sondern tue es für die, deren Kraft zu
glauben und zu hoffen gebrochen wurde. Das alles -
zumindest - sind wir den Opfern schuldig.
Amen.
Und der Friede G"ttes, der höher ist als
all unsere Vernunft, bewahre unsere
Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.