
Die Postmoderne ist da" - mit dieser
Exclamatio des Vorworts eröffnet A.Grözinger seine
Publikation 1, eine Zusammenfügung von Vorträgen,
die im Rahmen von Pfarrkonferenzen und kirchlichen
Fortbildungsseminaren gehalten wurden. Doch ist es wohl
nicht allein diesem Entstehungszusammenhang geschuldet,
daß die Veröffentlichung im Aufbau, Themenwahl und -durchführung
den systemisch-deduktionistischen Zugriff meidet.
Stattdessen scheint postmoderne Programmatik durch:
thematisch-motivische Diversität und ein eher
konstellativer denn subsumierender Aufbau (seiner
Innenseite nach), mehr Rhizom denn dihairetische
Pyramide. So etwa wird die Frage nach dem Topischen des
Christentums - sie ist in Grözingers Arbeit zentral -
verschieden kontextuiert und damit jeweils neu verstanden.
Die durchaus prekäre Ortszuweisung, daß christliche
Existenz wesentlich ein übergängiges "Dazwischen"
(33f.) sei, geschieht in so heterogene Spannungsfelder
hinein wie: Tempel und Markt (33-48), Erinnerung und
Humanität (64-78) oder gestaltet sich gar als "transversale
Seelsorge" (93) 2
Der Aufbau, seiner äußeren
Seite nach, folgt nichtsdestoweniger einem klassischen
Dreischritt. Das erste Großkapitel "Konturen
der Postmoderne" diskutiert schwerpunktartig
drei Problemkreise der Postmoderne und exponiert sie als
Leitthemen, auf deren Ambivalenz die Überlegungen der
nachfolgenden Kapitel bleibend bezogen sind. Das zweite
Kapitel "Christentum in der Postmoderne"
hat sein Zentrum im Versuch einer theologisch begründeten
Kulturtheorie, und mehr als es der Rückverweis (63) zu
erkennen gibt, zehrt dieses Kapitel von den Einsichten
und Leitideen der Habilitationsschrift Grözingers "Praktische
Theologie und Ästhetik" von 1987. Im dritten
Kapitel "Kirchliche Praxis in der Postmoderne"
dann werden die Konsequenzen der postmodernen
Herausforderungen (Kap.1) an das Christentum, sofern es
diese als eigene Stärken sich anzuverwandeln versteht,
einerseits und die Konsequenzen der theologischen
Kulturtheorie (Kap.2) andererseits für drei Bereiche der
Praktischen Theologie, nämlich Liturgie, Poimenik und
Diakonie, durchgesprochen. Ein beschließender, kurzer
Ausblick revidiert das überkommene Pfarramtsverständnis,
das Pfarramt sowohl demokratisierend wie in gewisser
Weise intellektualisierend. Die drei Großkap. sind zudem
darin miteinander verknüpft, daß das je letzte
Unterkapitel (1.5: Tempel und Markt - Zum Ort der Kirche
in der Postmoderne; 2.3: Tradition und Revolte; 3.3: Möglichkeiten
diakonischen Handelns: Lesen-Erzählen-Erinnern) die
Thematik des folgenden Kapitels bereits exponiert und
konturiert.
Bevor sich Grözinger den
drei Leitthemen der Conditio postmoderna 3
zuwendet,
diskutiert er in Kürze die Alternative "Moderne
oder Postmoderne?" (11-16), indem er zwei maßgebliche
Kombattanden der Kontroverse ins Feld führt, nämlich
Habermas, den tapferen Verteidiger der Moderne,
einerseits und Welsch andererseits, welcher allen
Differenzierungen zum Trotz der Moderne aufs Ganze
gesehen Valet sagt. Es ist letzlich eine Denkfigur und
These der Kritischen Theorie, genauer der "Dialektik
der Aufklärung", die Grözingers Parteinahme für
die Postmoderne motiviert und die Habermassche Hoffnung,
die Moderne sei ein - noch immer - vollendbares Projekt
desillusioniert: es seien gerade die Erfolge der Moderne,
durch welche diese als Katastrophengeschichte sich
entziffere. 4 Glücklicherweise
hängt Grözinger die Kontroverse nicht so hoch, daß er
das Verhältnis von Moderne und Postmoderne zum
Epochenbruch hochstilisiert, es geht nur um
"einen weitreichenden Abschied von gängigen
Standards und Strategien zur Beschreibung der
Wirklichkeit" (12). 5
Gleichwohl kann der Einleitung wie auch den folgenden
Kapiteln die Kritik, ein notwendiges Reflexionsniveau zu
unterschreiten, nicht erspart bleiben. Grözinger zitiert
Welsch affirmativ: "Die Postmoderne beginnt dort, wo
das Ganze aufhört (...) Vor allem nützt sie das Ende
des Einen und Ganzen positv, indem sie die zutage
tretende Vielfalt in ihrer Legitimität zu sichern und zu
entfalten sucht (...) Das Rad der Geschichte ist nicht
durch ein Einheitsdekret zurückzudrehen, und die
postmoderne Vielheit ist nicht mehr am Maßstab solcher
Einheit zu messen". (13f.)
Einmal davon abgesehen, daß
Passagen wie die eben zitierte selbst bereits Züge des
Dekretorischen tragen, auch davon abstrahierend, daß dem
inflationären Gebrauch des Begriffs Kultur
mitsamt seinen Komposita und Derivaten seinerseits schon
wieder die Tendenz zur Re-Totalisierung innewohnt (wovon
auch Grözinger nicht frei ist 6), den Nachweis
der Echtheit, ob die neue Pluralität dem
systemischen Einheitszwang tatsächlich entronnen oder ob
sie nicht vielmehr als dessen ideologisches Deckbild und
notwendig schöner Schein seiner Herrschaft weiterhin
unterworfen sei, diesen Nachweis und diese Prüfung
bleiben die postmodernen Apologeten schuldig. Längst
mehren sich die Stimmen, die der postmodern favorisierten
Pluralität, etwa in Gestalt der Diversität und Multikulturalität,
ihren Zauber nehmen, der kritische Widerpart modernen
Identitätszwangs zu sein. So definiert z.B. F.Jameson (und
mit ihm andere neomarxistische Kritiker wie R.Williams
und T.Eagleton) die Postmoderne als kulturelles Pendant
spätkapitalistischer Logik. Der konkurrenzlos gewordene
und in seiner Globalisierung gänzlich entfesselte
Kapitalismus eignet sich die Diversität der
Orte 7 als seine
Manifestationsbedingung an, und das neue Dogma der
Multikulturalität arbeitet - jenseits und entgegen der
intendierten Widerspenstigkeit - der kapitalistischen
Aneignungslogik, alles und jedes, selbst das Fremdeste,
kompatibel zu machen, auch zu. Nicht zuletzt ein
so leidenschaftsloser Soziologe wie N.Luhmann entzauberte
die postmodernen Fetische der Kontingenz und Ambiguität,
indem er ihnen den bescheidenen Platz eines semantischen
Begleitphänomens funktional ausdifferenzierter (also
moderner) Sozialsysteme zuweist. All diese Stimmen und
ihre kritischen Einwürfe jedoch finden in Grözingers
Darlegungen keine Resonanz.
Wenden wir uns nun den bereits mehrfach annoncierten drei
Leitthemen: Die Individualisierung der Lebenswelten - Der
Verdacht gegen die großen Erzählungen - Die Erfindung
des eigenen Lebens zu.
Ad 1) Die Individualisierung der
Lebenswelten
 
Grözinger referiert den
neuzeitlichen Prozeß der Individualisierung als eine in
zwei Stadien sich vollziehende Entwicklung, welche er
unterschieden wissen will. Gleichwohl hält er auch
Gemeinsames fest. Beide Stadien sind in sich ambivalent,
beiden eignet das Moment gesellschaftlichen Zwanges. Denn
einerseits emanzipiert erstmals die bürgerliche
Gesellschaft der Neuzeit den Menschen zur Vereinzelung
wirklicher Individualität, andererseits verweist jene
Vereinzelung - durch die Beschleunigungsdynamik der
industriellen Moderne forciert - auf einen doppelten
Verlust: die Auflösung und den Verbrauch traditioneller
Deutungsmuster und Sinnbestände; die Versachlichung
aller intersubjektiven Beziehungsweisen und ihre
Reduktion aufs nackte Interesse ökonomischer
Egoität. Den von U. Beck geprägten soziologischen Term
der Individualisierung der Lebenswelten
aufnehmend, sieht Grözinger die gegenwärtige
Gesellschaft einem neuen, bisher so nicht gekannten
Individualisierungszwang unterworfen. Da die Moderne
nicht nur die ihr vorausliegenden traditionalen Bestände,
sondern auch ihre ureigenen, durch sie erst
hervorgebrachten Institutionen, Ordnungsmuster und
Sinnvorräte verbraucht, werden nun den Individuen immer
mehr Definitionsleistungen zugemutet (19f.). Fernab der
neuzeitlichen Verheißung, ein Subjekt sei gerade darin
Subjekt, über das Definitionsmonopol zu gebieten, d.h.
alle Vorgegebenheiten vor den Richterstuhl
der kritischen Vernunft zu bringen, zeitigt der
Individualisierungszwang die Folgen der Entmächtigung
und Überforderung. Der Komplexitätsgrad moderner
Gesellschaft verhindert systematisch, daß die
notwendigen Entscheidungen der Individuen noch fundiert
und verantwortlich getroffen werden können - so
jedenfalls Becks Urteil (20).
Ob der gegenwärtige
Individuierungsschub sich wirklich von demjenigen der
industriellen Moderne unterscheiden läßt, ob er nicht
vielmehr gänzlich von der Virtualisierungs- und
Beschleunigungsdynamik der Neuzeit überhaupt unterhalten
wird, das mag eine vernachlässigenswerte, weil allzu
binnendifferenzierende Nachfrage sein. Doch defizitär
ist dieses Kapitel m.E. deshalb, weil es den in der
lebensweltlichen Individualisierung hinterlegten
Freiheitsspielraum nicht mit der nach wie vor
herrschenden systemischen Unfreiheit konfrontiert, die
Diagnose der Individualisierung der Lebenswelten mit
derjenigen ihrer Kolonialisierung 8nicht
ausbalanciert. Der Sachverhalt des gesellschaftlichen
Zwangs ist mit dem Hinweis auf die Dialektik, wir seien
zur Freiheit/"Individualisierung
verdammt" (22) jedenfalls unterbestimmt. Mit dem die
klassische Begrifflichkeit der Verdinglichung und
Entfremdung aufhebenden Begriff der Kolonialisierung
sucht Habermas folgende Dialektik zu fassen: die
Rationalisierung der Lebenswelt - im Übergang zur
modernen Gesellschaft - ermöglicht(e) eine Komplexitätssteigerung
des Systems und seiner Subsysteme (Ökonomie, Bürokratie,
Staat etc.), deren gegenüber der Lebenswelt "verselbständigte
Imperative" auf diese "destruktiv zurückschlagen"
(ebd., 277). Zum Subsystem insofern marginalisiert, als
sie ihre ureigene intersubjektive Verstehens- und
Handlungskompetenz mit dem Funktionalismus des Systems
und der anderen Subsysteme nicht mehr vermitteln kann (Entkoppelung),
gerät sie andererseits gänzlich unter die Botmäßigkeit
der Systemimperative (Kolonialisierung). Becks
Zitat (20) kann in dieser Linie verstanden werden: der
neue Systemimperativ der Individualisierung
bestimmt die Lebenswelt, ohne daß den Individuen die
Chance bliebe, jenen in ihre Verständigungsprozesse zu
integrieren.
Um Mißverständnissen
vorzubeugen: die Kritik geht nicht dahin, Grözinger ein
geschöntes Moderne- (oder Postmoderne-) Bild anzulasten,
denn über Schattenseiten und Gefahren macht er sich
keine Illusionen (vgl. z.B. 22.93.110.124f.). Die Kritik
konzentriert sich in dem Punkt, nur die Risiken,
Ambivalenzen etc. des modern-postmodernen Prozesses
auszuwählen, die sich in Chancen und positive
Herausforderungen der Theologie und kirchlichen Praxis
ummünzen lassen.
Ad 2) Der Verdacht gegen die großen
Erzählungen
 
"Man wird also jedesmal
vom Mord der Geschichte tönen, wenn man in einer
historischen Analyse (...) sieht, wie auf zu manifeste
Weise die Kategorien der Diskontinuität und des
Unterschiedes, die Begriffe der Schwelle, des Bruchs und
der Transformation, die Beschreibung der Folgen und
Grenzen benutzt werden. Man wird dann einen Anschlag auf
die Grundrechte der Geschichte und gegen die Fundierung
jeder möglichen Historizität denunzieren. Man darf sich
darin aber nicht täuschen: was man so stark beweint, ist
nicht das Verschwinden der Geschichte, sondern das
Verwischen jener Form von Geschichte, die insgeheim, aber
völlig, auf die synthetische Aktivität des Subjekts
bezogen war; (...) was man beweint, ist jener
ideologische Gebrauch der Geschichte, durch den man
versucht, dem Menschen all das wiederzugeben, was seit
mehr als einem Jahrhundert ihm stets entgangen ist."
9
Obgleich Foucault, von einer Allusion (80) abgesehen, in
Grözingers Publikation keine Rezeption erfährt, trifft
das Zitat aufs genaueste die Intention nicht nur dieses
Unterkapitels. Denn nicht um das Ende der Geschichte überhaupt
wie all ihres Erzählens ist es zu tun, zu verabschieden
gilt es allein dessen ideologische, da falsche Einheit
und Ganzheit supponierende Konstruktion. Wenn sie nicht
von jeher unzutreffend war, so ist sie es zumindest seit
"mehr als einem Jahrhundert". Analog
argumentiert Grözinger: in den Katastrophenerfahrungen
des Ersten Weltkrieges bereits rissig geworden, markiert
der Zivilisationsbruch "von Auschwitz und dem
Archipel Gulag" (24) das endgültige Ende der Meta-Erzählung
(so Lyotards Term), der Erzählung der
Geschichtsteleologie, der Autonomie neuzeitlicher
Subjektivität etc.
Eine wichtige
Differenzierung, die Grözinger vornimmt, sei hier
referiert. Zwar reagierte schon die Ästhetik der
klassischen Moderne (Dadaismus,Kubismus, Wiener Schule
usf.) seismographisch genau auf die Krisen- und
Zerfallsprozesse ihrer Zeit, doch hielt sie an der
Limesgestalt einer neuen, einheitsgebenden
Verbindlichkeit fest. Im Gegenzug dazu verabschiedet die
Postmoderne nicht nur jedwede einheitsintendierende
Hoffnung, sie münzt den Verlust vielmehr in den Gewinn
um, den resultierenden Freiraum als Freiraum neuer
Pluralität nun erstmals nutzen zu können. Die
Widerlegung des Einwands, solche Pluralitätsaffirmation
begebe sich schon im vorhinein jeder Möglichkeit eines
Kriterien- und Begründungsdiskurses, delegiert Grözinger
an ein Zitat Z.Baumans (27f.). Anders gesagt: eine eigene
Auseinandersetzung findet nicht statt, weder hier noch im
Zuge der folgenden Kapitel.
Nach differenzierender
Antwort auf die (selbst-)kritische Nachfrage, ob und
inwiefern das Ende aller Groß-Erzählungen nicht
gleichermaßen und essentiell die Groß-Erzählung Christentum
und die mit ihr verbundenen Groß-Erzählungen (z.B. Patriachat,
Mission etc.10) betreffe,
beschließt Grözinger das Kapitel mit der Exposition
eines reformatorischen Theologumenons, das sich im
folgenden als ein zentraler Argumentationsträger
erweisen soll (vgl. 33.59.61-63.81-83.120). Die
Christentumskritik in gewisser Weise unterlaufend,
profiliert Grözinger die Aneis Gottes (Luther),
die Gottesgeschichte als eine solche, die "nur im
Einspruch und Widerspruch gegen alle großerzählerischen
Überformungen zu hören und zu erzählen ist" (29).
Die biblische Gottesgeschichte ist im doppelten Sinne
kritisch. Da sie ihrem Gehalt wie ihrer Erzählstruktur
nach ein Verhältnis zur Machtlosigkeit 11
unterhält,
ist sie stets gefährdet, der Gewalt des menschlichen (Erzähl-)Zugriffs
zu erliegen. Mit Grözinger wäre also erneut das in
diesem Sinne erzähl- und traditionskritische Potential
des reformatorischen sola scriptura zu heben. Und
genau darin erweist die Gottesgeschichte ihre zweite
kritische Seite. Der paulinische Leitgedanke, daß Gott
gerade im Schwachen/in den Schwachen stark ist, trägt,
obgleich ungenannt, auch Grözingers protestantisches
Urvertrauen 12 ins Gotteswort,
gerade aufgrund seiner Schwachheit, Andersheit,
Sperrigkeit sich stets erneut Gehör und Öffentlichkeit
verschaffen (vgl. v.a. 59.82f.134), kritischer Widerpart
und Einspruch gegen den Mainstream sein zu können.
Allerdings, die von Grözinger
anfangs noch so optimistisch annoncierte prästabilierte
Harmonie von "genuin reformatorische(n) Motive(n)
mit den Notwendigkeiten der Postmoderne" (33) -
zufolge ihrer erzählkritischen Konvergenz - wird brüchiger,
je mehr die Ausführungen/die Lektüre fortschreiten.
Denn angesichts der notorischen, ans Barbarische
reichenden Vergeßlichkeit der Postmoderne 13, ihrer
Dialektik, so geschichtsgefräßig wie
traditionsresistent zu sein (78), nicht zuletzt
angesichts ihrer Indifferenz (110) enthüllen sich die
Zentren theologischer Reflexion wie kirchlicher Praxis, nämlich
Parteilichkeit und Eingedenken (vgl. v.a. 69-71.77f.), im
besten Fall als Remedien, schlimmstenfalls als Gegner der
Postmoderne. So kann auch Grözinger nicht umhin
zuzugeben: "Gerade die Postmoderne mit ihrem
radikalen Pluralismus, der immer in der Gefahr steht, in
die Indifferenz zu führen, ist auf solche Gegen-Schriften
(gemeint ist hier die Gegen-Schrift des Gottesdienstes; B.G.)
angewiesen, mittels dessen je aufs neue eine individuelle
Verbindlichkeit entstehen kann" (110). Aber, jenes
obengenannte Gefälle des Textes passiert mehr, denn daß
es reflektiert wird.
Ad 3) Die Erfindung des eigenen
Lebens
 
Dieses Unterkapitel führt die Überlegungen
des ersten Leitthemas fort, indem es nun den Sachverhalt
eines in die Krise geratenen Subjektbegriffes näher
beleuchtet.
Da Biographien heute nicht nur "nicht-eigene(s)
Leben" (31) beschreiben - das galt für traditionale
Biographien vielleicht sogar noch mehr -, sondern dieses
Nicht-Eigene darüber hinaus aus einer Vielheit
heterogener Geschichten besteht, wird die Frage desto
dringlicher, wie das organisierend-synthetisierende
Einheitsprinzip klassischer Subjektivität postmodern
fortzubestimmen sei. Wie Welsch ist auch Grözinger vom
unwiederbringlichen Vergangenheitscharakter des
neuzeitlichen Subjektbegriffs überzeugt. Nimmt man
Nietzsches Diktum von 1884 auf, der Mensch sei das
noch nicht festgestellte Tier, so entziffert sich
die postmoderne Existenzform als eine solche, die - ohne
Rückversicherung in einer vorgängigen Einheit - sowohl
ihr eigenes Leben in all seinen Momenten als auch die
"Grammatik" je zu erfinden hat, um dieses Leben
in seiner Heterogenität "lesen und buchstabieren zu
können" (32) 14 . Den Menschen
darin beizustehen, das erlebte Leben lesbar, erzählbar,
verstehbar zu machen, ihnen gewissermaßen die Grammatik
und Hermeneutik biographischer Aneignung an die Hand zu
geben, darin sieht Grözinger die neue Aufgabe und
Herausforderung von Theologie.und Kirche (33), eine
Linie, die er dann v.a. in den Kapiteln zur Seelsorge und
Diakonie auszieht (3.2; 3.3).
Der Abschied des Christentums
von seiner überkommenen Herrschaftsposition einer Groß-Erzählung
bedeutet in Grözingers Perspektivierung weit weniger
einen Verlust denn das - notabene verwandelte -
Wiedereinrücken in eine ursprüngliche Möglichkeit, ja
Wirklichkeit der frühen Christenheit: die Topologie
eines dezentrierten Dazwischen.15
Sie, zunächst
ganz unmetaphorisch genommen, entwickelt Grözinger in
Kapitel 1.5: "Tempel und Markt - Zum Ort der Kirche
in der Postmoderne", um sie dann durchgehend zu der
Existenzform und Funktionsweise postmoderner Theologie
und kirchlicher Praxis, wollen sie denn auf der Höhe der
Zeit sein, auszuweiten (44ff. beginnt diese Ausweitung).
Die fragile Identitätsverfassung der Nicht-Identität,
welche der Städter Paulus so treffend ins
(IKor 7) faßte, manifestierte sich auch
im Raum. Zwar unterschieden sich die Räumlichkeiten des
frühen Christentums, nämlich das private Wohnhaus des
Oikos und die hieraus sich entwickelnde Hauskirche,
scharf von der Öffentlichkeitssphäre antiker Urbanität,
focussiert in der Agora, gleichwohl bildeten jene den Passagen-Charakter
der antiken Stadt auch in sich ab (vgl. 37-39). Und da
die frühen Christen von einer "doppelten
Raumerfahrung" (38) der heidnisch-öffentlichen
Agora einerseits und des christlich-privaten Oikos
andererseits geprägt waren, formten sie sich allmählich
zu besonders "Passagen-vertrauten Menschen" (39),
nicht zuletzt deshalb, weil sie diese Doppelung in
zentralen liturgischen Akten, Taufakt und
Abendmahlsfeier, wiederholten. Folgt man Grözingers
Darlegungen, so ist gerade das Christentum zum
Traditionsträger und -garanten dessen qualifiziert,
wodurch Urbanität sich von jeher auszeichnet:
Multiplizität und Diversität der Orte und Übergänge
als Grundlage einer "Vielzahl von Lebenslogiken"
(36).16 Es ist deshalb - potentiell -
auch besonders qualifiziert, der so "passagensüchtig(en)
wie passagenbedürftig(en)" (41) postmodernen
Urbanität zu begegnen.
So attraktiv die These ist,
Christentum und Urbanität konvergierten im Sachverhalt
der Passage, so ist doch auch Kritik anzumelden, Grözingers
Bild der modern-postmodernen Stadt sei nicht frei von
weichzeichnerischer Unschärfe: die Elogen auf den
Passagen-Charakter der Stadt wie ihrer Bewohner übertönen
den Zwang zur Mimesis, Anpassung und Verstellung, der der
Diversität der Übergänge/ Lebenslogiken eingezeichnet
ist. Der Sachverhalt der Nomadisierung (41) und Ver-Fremdung
wird, einmal mehr, auf seine Schattenseite der
Entfremdung nicht weiter befragt.17 Dem am Passagen-Werk
und Baudelaire-Buch Benjamins geschulten, offenen Sinns
durch New York flanierenden Besucher steht kein Bewohner,
keine Bewohnerin einer durchschnittlich häßlichen,
unattraktiven deutschen Großstadt gegenüber, dessen/deren
Apperzeptionsapparat an den alltäglichen "Choc"18 - so vielleicht
Benjamin fortbestimmend - sich hat gewöhnen müssen, der/
die sich der urbanen Reizüberflutung mit den
Abwehrstrategien der Selektion und Ignoranz bzw. der
Haltung der Indifferenz und Gleichgültigkeit zu erwehren
sucht.
Im Rhizom des Textes Grözingers
verläuft ein Webfaden vom Kapitel der antik-hellenistischen
Stadt (1.5. II) zum III. Abschnitt des Kapitels 3.1.
("Die Wiederkehr des Heiligen - die pluralistische
Kultur des Feiertages und des Gottesdienstes"),
welcher eine "postmoderne Kunstlehre des
Gottesdienstes" (98) zu entwickeln sucht. Denn das
nicht nur lokale, sondern auch sachliche Aufeinander-Verweisen
von Theater und Tempel/ Heiligtum der antiken Stadt
19 intendiert Grözinger unter den
Bedingungen der Postmoderne neu zur Geltung zu bringen.
Die Theateranalogie wird nach drei Richtungen entfaltet.
Dem Drehbuch korrespondiert die Agende, die genau dann
besonders werktreu, d.h. transparent aufs
"Ursprungsgeschehen" (101) der Gottesgeschichte
hin ist, wenn sie jeweils neue Aktualisierungen ermöglicht.
Oder anders gewendet: der Gottesdienst gelingt nur dann
als "Wieder-Holung" der "uralt(en)" (103)
Gottesgeschichte, wenn er sich gegen seine jeweilige Neu-Inszenierung
nicht abriegelt.
Das zweite Analogon situiert Grözinger in der Predigt
"als einem monologischen Drama" (105).
Auch hier schafft sich der Begriff der Inszenierung, d.i.
das hermeneutisch-zwischenträgerische Tun des Über-Setzens
Geltung. Denn wie H.Luther, von dem Grözinger sowohl
jenen Begriff als auch seine Interpretation borgt,
versteht auch er die Predigt als einen Vermittlungsprozeß,
durch welchen ein vergangener Text über den garstigen
Graben der geschichtlichen Entfernung in die "Szenen"
(107) unserer gegenwärtigen Situation versetzt, über-setzt
wird, letzlich in dem Predigtziel terminierend, jedem Hörer/jeder
Hörerin "ein Skript an die Hand" zu geben,
"nach dem sie ihre eigene Predigt schreiben können"
(108).
Und auch die dritte Fragerichtung nach dem Ort des
Gottesdienstes im Gesamtkontext einer pluralistischen
Gesellschaft dependiert vom leitenden Konzept der
postmodern-christlichen Hermeneutik des Dazwischen. Denn
das Kunstwerk Gottesdienst ereignet die durchaus
spannungsreiche Begegnung der Alltagswelt mit der "fiktiven
Gegenwelt" (110) göttlicher Realität. Deren
inszenatorischen Vergegenwärtigung (in Predigt, Liturgie)
stellt die Alltagswelt insgesamt unter die Hoffnung und
Verheißung, sie gehe ihrer entscheidenden Verwandlung im
Eschaton noch entgegen.20
Das erzähl- und
herrschaftskritische reformatorische Motiv der sola
scriptura wird im 2. Kapitel (2.1 "Plädoyer
für eine neue Kulturtheologie") kulturtheologisch
fortbestimmt. Sowohl das einer kruden Ontologie sich
verdankende Synthesis-Denken P.Tillichs 21
als auch
den paternalistisch-dekretorischen Gestus K.Barths hinter
sich lassend, skizziert Grözinger einen "Kulturprotestantismus"
(63), der sich von einer Hermeneutik sich ereignender
Konstellation leiten läßt - so der von Grözinger
positiv aufgenommene Term G.Figals (62f.). Das
erzdemokratische Diktum von Habermas, im Aufklärungsprozeß
gebe es nicht Aufgeklärte und Aufzuklärende, sondern
nur Beteiligte, leicht abgewandelt aufnehmend, könnte
man in Grözingers Perspektive sagen: im unabschließbar-offenen
Prozeß kultureller Verständigung und Konstellation sind
auch Theologie und Kirche nur Beteiligte, den biblischen
Überlieferungsbestand wachhaltende, erinnernd-erzählende
Boten zwischen den diversen, oft heterogenen
Erfahrungsbereichen der pluralistischen Gesellschaft.
So attraktiv-sympathisch die
aller Imperialität entratende, dezentrierte Hermeneutik
Grözinger auch ist, in der ganzen, doch so weit
gespannten Topologie des Dazwischen fehlt eine
wesentliche Daseinsweise des christlichen Dazwischen völlig:
daß Theologie und Kirche von der Schrift eingesetzt
sind, Israel und die Völker bleibend und, was das Goijische
anlangt, auch kritisch aufeinander zu beziehen. Nach dem
hoffentlichen Ende der christlichen Groß-Erzählung des
Antijudaismus könnten aus diesem Dazwischen einer so
dann neu israelorientierten Theologie und Kirche noch
ganz andere Herausforderungen und Chancen als die von Grözinger
skizzierten erwachsen.
Anmerkungen
 
1 Grözinger, A.,
Die Kirche - ist sie noch zu retten? Anstiftungen für
das Christentum in postmoderner Gesellschaft, Gütersloh
1998. Die Zitation und/oder Paraphrasierung des Buches
wird im folgenden stets durch in Klammern gesetzte Angabe
der Seitenzahl ausgewiesen.
2 Hier gleich eine
kritische Bemerkung vorweg: solche Virtuosität des
Kontextwechsels geht nicht ganz ohne Begriffsäquivokationen
bzw. Erweiterung der Begriffsgrenzen über das Tunliche
hinaus ab, und es fragt sich, ob der Begriff des Übergangs
oder der Passage, so weit wie er von Grözinger gefaßt
ist, da er alles und jedes erhellen soll, am Ende nicht
eher nichts erfaßt.
3 Mit dieser Re-Latinisierung
greift der Autor die postmoderne Programmschrift La
condition postmoderne von Lyotard auf (23), indem er
ihren Titel über alle drei Entwicklungen setzt (16),
deren eine die Krise der Groß-Erzählung ist.
4 Das Benjaminsche
Theorem und Pendant: "Es ist niemals ein Dokument
der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu
sein", an der Dialektik der Moderne gewonnen und
sodann gattungsgeschichtlich geweitet, zitiert Grözinger
wohl (67). Allein, das rationalitäts- und aufklärungskritische
Potential der Frankfurter Schule bringt Grözinger nicht
zum Zuge, er sähe sich sonst vielleicht der kritischen
Nachfrage gegenüber, ob die ein oder andere postmoderne
Verheißung sich nicht als schwacher Abkömmling einer
bereits geleisteten, systemkritischen Debatte decouvriere.
5 Über die Moderne
und Postmoderne einende Obsession, sich der jeweiligen
Gegenwart epochal vergewissern zu müssen,
vgl. den klugen Beitrag v. W.Grasskamp "Ist die
Moderne eine Epoche?" in dem insgesamt sehr
lesenswerten Sonderheft der Zeitschrift MERKUR: "Postmoderne.
Eine Bilanz" ,Sept./Okt. 1998, 757-765.
6 "Denn die
Postmoderne ist in erster Linie ein kulturelles Phänomen,
von wo aus dann sicher auch Wirkungen auf Politik oder
andere als primär kulturelle Bereiche der Gesellschaft
ausstrahlen" (49). Eine solche Aussage segnet den
Paradigmenwechsel von den Sozial- zu den
Kulturwissenschaften ab: wo (einst) Gesellschaft war,
soll (nun) Kultur werden.
7 Regionalismus
und Lokalität sind Zentralbegriffe der
postmodernen Semantik; über den Zusammenhang von
Globalisierung und topischer Besonderung vgl. den Beitrag
v. N.Weber "Jenseits der Zeitmauer - Globalisierung
als Erbe der Postmoderne?", in: MERKUR, 981-987.
8 Vielleicht hat Grözinger
Habermas Werk doch zu vorschnell zur Seite gelegt.
Als Re-Lecture sei empfohlen: Theorie des kommunikativen
Handelns, Bd.2, 229-293.445-548; den Sachverhalt der
lebensweltlichen Kolonialisierung analysiert Habermas ebd.,
452ff.489ff.
9 M.Foucault, Archäologie
des Wissens, 25f.
10 Warum fehlt die
Erwähnung der mit dem Christentum verbundenen, besonders
verheerenden Groß-Erzählung des Antijudaismus/Antisemitismus?
11 Vgl. Sach 3,6:
"... Nicht durch Heeresmacht und nicht durch Gewalt,
sondern durch meinen Geist! spricht der Herr der
Heerscharen".
12 Grözinger
spricht vom "protestantischen Urrisiko" (61),
die Gottesgeschichte in jeweils neuen kulturellen
Konstellationen zur Darstellung zu bringen, sie darin
loszulassen. Da die Tragfähigkeit dieser
Geschichte eben nicht vorab gewußt, sondern nur geglaubt
werden kann, wurde die Formulierung Urvertrauen
gewählt.
13 Daß der
Postmoderne eine Tendenz zur Barbarei innewohnt, ist eine
Kritik in Verlängerung der Perspektive Grözingers, der
"postmoderne Verzicht auf diesen Zusammenhang"
(gemeint ist derjenige von Erinnerung und Humanität; B.G.)
bedeute keinen "Freiheitsgewinn", "vielmehr
einen Verlust an Lebensraum" (65; vgl. auch 133).
14 Der kluge-allzukluge
Nietzsche witterte den Zusammenhang zwischen Theologie
und Grammatik, als er schrieb: "Ich fürchte, wir
werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik
glauben" (Götzendämmerung).
15 Mit dieser
Umdeutung eines Verlustes in einen Gewinn bringt Grözinger
eine Strategie der Postmoderne zum Zuge (vgl. v.a. 26).
16 Die
mittelalterliche Stadt mit ihrer gleichsam gebauten Groß-Erzählung
Christentum, d.h. der gebietenden Zentralität der
christl. Kathedrale, verfällt entsprechend Grözingers
Kritik (vgl.39.45).
17 Der Nomade und
der Fremde gehören gleichfalls zum postmodernen Inventar.
Als personifizierte Ambivalenz avanciert letzterer zur
Zentralmetapher postmoderner Urbanität. Der Fremde, weil
unklassifizierbar, konfrontiert uns mit dem
Unentscheidbaren, so Derrida und Z.Bauman, vgl. J.Früchtl,
Gesteigerte Ambivalenz, in: MERKUR, 775f. Zum Verhältnis
von Nomadentum und Postmoderne vgl. den Beitrag von P.M.Lützeler,
ebd., 908-918.
18 Die dem Trauma
verwandte Choc-Erfahrung, Signum der modernen Stadt,
analysiert Benjamin in: Charles Baudelaire, 103-149.
19 Über die von Grözinger
herangezogene Arbeit Kolbs "Die Stadt im Altertum"
hinaus sei hier noch an eine andere Publikation des
Historikers erinnert, den Aufsatz "Polis und Theater".
Ebenda entwickelt Kolb am Paradigma der athenischen Agora
die triadische Struktur von Polis (Agora als Rats-,
Gerichts- und Volksversammlungsort), Theater (die Agora
ist mit der Orchestra identisch, d.h. dem
Veranstaltungsort dramatischer Aufführungen) und
Heiligtum (die Orchestra war ursprünglich kultischer
Tanzplatz; zudem: alle Aufführungen sind Teil des
Dionysos-Kultes). Eine postmoderne Konfrontation mit
dieser triadischen, das Politische einschließenden
Konstellation wäre vielleicht noch reizvoller als die
von Grözinger erarbeitete Binärstruktur gewesen. Das (kontroverse)
Verhältnis von Religion und politischer Macht entwickelt
er in einem anderen Zusammenhang, nämlich demjenigen
eines theologisch gegründeten Erinnerungskonzeptes (zum
biblischen Architekturstreit vgl. 71-75).
20 Es scheint, Grözinger
hat seine Theologische Ästhetik nun um den
Zusammenhang: Fiktionalität und Eschatologie erweitert,
während er der Ästhetik an maßgeblicher Stelle seiner
HabSchr. die Aufgabe zuwies, unverzichtbares Gedächtnis
theologisch relevanter Erfahrungen zu sein (ebd.,134).
21 Eine dezidierte
Kritik der Kulturtheorie Tillichs findet sich auch
ebd.,76-79.
Literatur
 
Benjamin, W., Charles
Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des
Hochkapitalismus, Frankfurt a.M. 1974
Foucault, M., Archäologie
des Wissens, Frankfurt a.M. 1981
Grözinger
, A., Die Kirche
- ist sie noch zu retten?Anstiftungen
für das Christentum in postmoderner
Gesellschaft, Gütersloh 1998
Ders., Praktische Theologie
und Ästhetik, München 1987
Habermas, J., Theorie des
kommunikativen Handelns, Bd.2, Frankfurt a.M. 1981
Horkheimer, M./Adorno,
T.W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente, Frankfurt a.M. 1973
Lützeler, P.M., Ein
deutsches Mißverständnis, in: DIE ZEIT, Nr.41 (1.10.1998)
Postmoderne. Eine Bilanz, Sonderheft MERKUR,
Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, hg. v. K.H.Bohrer
u. Kurt Scheel, Stuttgart, Heft 9/10, Sept./Okt. 1998
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