Die Evangelische Kirche
in Berlin-Brandenburg hat, wie inzwischen fast alle evangelischen
Landeskirchen, erkannt und bekannt, dass es zum Wesen einer christlichen
Kirche gehört, mit Israel solidarisch zu sein; dass ihr Bekenntnis
zu Jesus Christus sie auch mit seinem Volk verbindet, sie an Israel
bindet; dass es darum zwar nicht ihre einzige, aber ihre Kernaufgabe
ist, so zu leben und zu lehren, dafür zu beten und zu arbeiten,
gerade zu stehen und einzutreten, zu kämpfen, dass Israel leben
kann und nicht sterben muss.
Sie hat damit die Jahrhunderte
alte verhängnisvolle Irrlehre verworfen, die christliche Kirche
habe Israel als Gottes Volk ersetzt und abgelöst. Sie hat mit
Scham und Entsetzen erkannt, mit dieser falschen Lehre denen den
Weg bereitet zu haben, die die theologisch-theoretische Rede vom
Ende Israels wörtlich nahmen und umsetzten und diesen Mord
Endlösung nannten. Sie ist mit dieser Erkenntnis und mit diesem
Bekenntnis im Wort vor Gott und den Menschen, bei Israel und den
Völkern.
Und nicht nur im Wort. Sie weiß
aus der Bibel, dass der Gott Israels einer ist, der Herzen und Nieren
prüft, sich also nicht nur für den Wortlaut kirchlicher
Beschlüsse und Bekenntnisse interessiert, sondern für
Gefühle, für spontane Regungen. Die Kirche wird gegenwärtig
geprüft, ob es ihr ans Herz und an die Nieren geht, dass Israel
an Leib und Seele bedroht ist wie nie zuvor seit der Staatsgründung,
trotz seiner militärischen Überlegenheit. In kaum einem
anderen Land ist das Leben für Juden so lebensgefährlich
wie in dem Staat, der gegründet wurde, um Juden einen sicheren
Ort zu bieten. Bedroht durch Selbstmörder, die in der Tat selbst
Mörder sind, Täter, nicht Opfer, keine Märtyrer.
Und sie zielen nicht nur auf Siedler und Soldaten, sondern auf Juden
weil sie Juden sind: Jugendliche in der Disko, Gäste am Seder-Abend,
Restaurantbesucher und Käufer, Benutzer von Bussen und Straßen.
Diese Morde machen blutig deutlich, dass es nicht nur um die besetzten
Gebiete geht, sondern um Haifa, Netanya und Tel Aviv, nicht nur
um Ostjerusalem, sondern auch um Rechavia, Kiriat Hajuwel, Machne
Jehuda. Mir zerreißt es das Herz, dass immer mehr Israelis
offen oder heimlich befürchten, das Experiment Israel sei zum
Scheitern verurteilt, der Staat Israel könnte eine Episode
von ein paar Jahrzehnten bleiben. Und es geht mir an die Nieren,
dass jedenfalls die große Mehrheit der Israelis und jedenfalls
zur Zeit sich zu Mitteln gezwungen sieht, die auch diejenigen nicht
heil lassen, die sie anwenden. Israel ist bedroht an Leib und Seele.
Auch darin werden Christen auf
Herz und Nieren geprüft, ob ihre Solidarität mit Israel
an die Bedingung geknüpft ist, dass es dem traditionellen christlichen
und deutschen Bild von Juden entspricht, nämlich wehrlose Opfer
zu sein; ob Israel also unsere Solidarität sofort einbüßt,
wenn es tätig und zum Täter wird, auch zuschlägt.
Eine Solidarität, die Bedingungen aufstellt, die erst mal zu
erfüllen sind, die nur auf Bewährung gewährt wird,
ist keine. Das heißt natürlich nicht, wie immer wieder
interessiert missverstanden wird, man dürfe Israels Regierung
und ihre Politik nicht kritisieren. Selbstverständlich kann
man das, und es geschieht ja auch ständig, in Israel und anderswo,
bei Juden und Nichtjuden. Sätze, die mit Es muss erlaubt
sein beginnen, sind verlogen, weil sie so tun, als wäre da
was verboten; weil sie voraussetzen, was immer schon antisemitisches
Hirngespinst war, dass die Welt oder jedenfalls die Weltöffentlichkeit
von Juden beherrscht ist; weil sie suggerieren, es gehöre ungeheurer
Mut dazu, etwas zu sagen, was in Wirklichkeit gar nichts kostet.
Solche Sätze zeigen nur, wie dringlich offenbar und wie tief
das Bedürfnis ist, Israel zu kritisieren.
Kein Antisemit ist nicht, wer
meint, keiner zu sein, sondern wer an Israel keine anderen Maßstäbe
anlegt, als an andere Staaten. So hat es Helmut Gollwitzer schon
in den 70er Jahren gesagt. Und es ist in der Tat auffällig,
wie viel interessanter es ist, nicht erst seit gestern und nicht
nur in Deutschland, was Israel den Palästinensern antut, als
das, was Jordanien, Syrien, andere arabische Staaten ihnen taten
und tun. Harald Martenstein hat im Tagesspiegel solche strengeren
Maßstäbe an Israel damit verteidigt, dass Israel eine
Demokratie ist, sich auf Menschenrechte verpflichtet hat. In der
Tat ist Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten, auch das einzige
Land, in dem es eine Friedensbewegung, Gruppen wie Bezelem, eine
unabhängige Justiz gibt, und auch weltweit eins der wenigen
Länder, in denen es nicht nur erlaubt, sondern geboten ist,
Befehle zu verweigern, die unrecht sind. Aber es wäre Rassismus,
von arabischen Staaten so etwas erst gar nicht zu erwarten, sondern
nur Barbarei.
Doch die feinsinnigen Unterscheidungen
zwischen Israelkritik und Antisemitismus werden immer mehr gegenstandslos.
Das zeigen die Anschläge auf Synagogen und Friedhöfe in
vielen Ländern. Das zeigen die ständigen Vergleiche zwischen
der Politik Israels und den Taten der Nationalsozialisten. Da ist
von Vernichtungskrieg die Rede, von Völkermord, gestern ausgerechnet
hier in Berlin sogar vom Holocaust am palästinensischen Volk.
Solche Vergleiche, denen Zweck und Absicht grell auf der Stirn geschrieben
steht, waren vor zwanzig Jahren noch das zweifelhafte Privileg der
deutschen Linken, sind inzwischen auch von Konservativen, auch in
christlichen Kreisen zu hören, was zeigt, dass da einige sich
wirklich für ein paar Jahre nur mühsam verkniffen haben,
das zu sagen, was sie immer schon dachten.
Und schließlich die merkwürdige
Tatsache, dass auch Menschen und Medien, die sonst nicht besonders
bibelfest sind, im Zusammenhang mit Israel ständig und geradezu
zwanghaft Worte wie alttestamentarisch oder Rache oder Vergeltung
einfallen oder das stets und vor allem von Christen missverstandene
Bibelwort Auge um Auge, Zahn um Zahn. Da wird die kritisierte
Politik des Staates Israel geradezu mit dem Wesen des Judentums
gleichgesetzt. Und das zeigt: jene christlich antijüdische
Irrlehre ist auch dann noch wirksam, wenn das Christentum gesellschaftlich
kaum noch eine Rolle spielt.
Es ist beklemmend, wenn manchmal
auch Juden in diesem Land sich fast beflissen von Israel distanzieren
und behaupten, es sei Scharons Politik, die neuen Antisemitismus
schafft, und als könnten sie dem durch solche Distanzierungen
entgehen. Aber 1. gibt es keinen neuen Antisemitismus und 2. hat
Antisemitismus mit dem, was Juden in Israel oder sonst wo tun oder
nicht tun, wenig zu tun.
Wünscht Jerusalem Frieden!
Befriedet seien, die dich lieben! Friede sei in deinen Mauern, befriedet
deine Paläste! Um meiner Brüder und um meiner Genossen
willen will ich Frieden herbeireden für dich (Psalm 122,6-8).
Matthias
Loerbroks (Dr. theol.), Pfarrer in Berlin