Was
ist nun das, was mich – ganz individuell verstanden – angeht, auf
daß ich es unbedingt weitererzählen muß?
Es ist das Geheimnis, daß G"tt mit Israel geredet hat, zuerst und
liebevoll:
„Du
bist mein Licht für die Welt; Dir vertraue ich an, was für die Menschen
insgesamt und überhaupt gut ist. Du bist mein Zeuge – ohne Dich
und ohne Dein Zeugnis bin ich nicht. Wen und was Du segnest, das
segne auch ich. Und wo Du wegbleiben mußt und abstehst, da bin auch
ich nicht.“
Natürlich,
so exakt zitierbar steht das eben Gesagte nicht in der Bibel, doch
ist es meine erfahrungsgetragene Lesart der Bibel in ihren beiden
Testamenten. Erfahrungsgetragen...
„Höre
Israel, der Ewige, unser G"tt, der Ewige ist einzig Einer.“
Sie kennen
diesen Satz, es ist das „Schma Jisrael“, das auch das jüdische Glaubensbekenntnis
genannt wird. Aber welch merkwürdiges Credo: da steht am Anfang des
Satzes kein „Ich glaube“ oder „Wir glauben“, sondern eine Anrede,
ein Imperativ: „Höre“.
Wer spricht? Mosche natürlich, er ist das Subjekt
einer nahezu endlosen Abschiedrede im 5. Buch Mose: redet und redet...
Aber
wer spricht wirklich? G"tt, der Ewige, spricht, und Mosche
soll es weitersagen. Immer wieder stoßen wir in den ersten Kapiteln
des 5. Buches auf die Wendung:
„Da
sprach Gott zu mir und sagte: sprich so zu den Kindern Israel.“
G"tt
spricht Israel an – die Beziehung der Anrede und des Angesprochen-Seins
beherrscht das jüdische Credo. (...) Mein
oder unser Bekennen gründet in einer Erfahrung, die nicht mehr in
sich selbst gründet und also aufhört, Erfahrung zu sein (1),
denn sie gründet in G"ttes Handeln und G"ttes Rede, die aller menschlichen
Erfahrung überschwenglich sind.
Kein fester Boden, keine erste und letzte Gewißheit, sondern: Höre
- G"ttes Anrede und Sein Zuvorkommen, Seine Zuvorkommenheit, auf die
wir nie und nimmer ein Anrecht haben.
Die Anrede geht in das Bekenntnis über: Der Ewige, unser G"tt, der
Ewige ist einzig Einer. Es heißt mit Bedacht nicht „mein G"tt“, und
natürlich erst recht nicht „ein Gott“ (...).
Angesprochen bekennen wir – erkannt erkennen wir, so wird es Paulus
dann im Neuen Testament sagen.
Wie
wunderbar: ein Credo, das seine „Betroffenheit“ – und hier
einmal stimmt das oft mißbrauchte und inflationär gebrauchte Wort
wirklich – mitformuliert: Höre!
Exkurs
in Buchstaben-Weisheit: 

Das erste
Wort des Credo lautet in der hebräischen Sprache „Schma“ („Höre“),
der letzte Buchstabe – Ajin heißt er - dieses ersten Wortes
wird in jeder Tanach-Ausgabe vergrößert wiedergegeben und so herausgehoben.
Analog
verhält es sich mit dem letzten Buchstaben –
Dalet heißt er - des letzten Wortes „echad“
(„einzig Einer“). Warum gerade diese beiden Buchstaben traditionell
exponiert sind, lassen wir heute einmal beiseite.
Das Ajin
des „Schma“ und das Dalet des „echad“ kombinieren sich vorwärts gelesen
zu dem Wort „ed“, welches „Zeuge“
bedeutet, rückwärts gelesen lautet das Wort „da“ (das Ajin
kann je nach Vokalisation nach „E“ oder nach“A“ hin ausgesprochen
werden), welches „wisse“
besagt, den Imperativ zum Verb „wissen“. „Wisse, daß Du mein Zeuge
bist“, so könnte man die beiden Worte kombinieren, aber auch die
Kombination „Sei Zeuge dessen, was Du weißt / bezeuge, was Du weißt“
ist sinnvoll und möglich. Damit nähern wir uns der Liedzeile „Ich
weiß, woran ich glaube“ – Glaube und Zeugnis einerseits, Wissen andererseits
berühren sich.
Erfahrungsgetragen
sei meine Theologie und Lesart der Bibel und so auch meine Lesart
des „Höre Israel“, und also rede ich jetzt von meiner Erfahrung.
Ich sitze auf der Frauenempore in der Synagoge der Roonstraße,
es ist Samstag Vormittag, so ungefähr der Zeitpunkt, da ich gerade
zu Ihnen spreche: Der Schabbat-G"ttesdienst hat soeben begonnen. Bald
werden die obligaten Berachot, die Lobsprüche vor dem Glaubensbekenntis
gesagt sein, dann folgt das Bekenntnis selbst. Alle Betenden verdecken
mit der rechten Hand die Augen, der Vorbeter hat eine besondere Melodie
angestimmt, äußerste Konzentration herrscht, Kawana nennt sich das
hebräisch, Hingabe im Akt des Betens und Sprechens:
„Schma
Israel, Adonai eloheinu, Adonai echad.“
Jeder,
der sich ein wenig mit der Auslegungsgschichte des „Schma“ auskennt,
weiß, daß das hebräische Wort für „einzig
Einer“, „echad“,
als eine Art Seelenfahrzeug dient, im Leben wie im Sterben.
Mit äußerster Konzentration gesagt, dient es als Steg oder als Brücke,
über die der oder die Betende seine oder ihre Seele hin zu G"tt schickt
– es ist der Augenblick intimster G"ttesnähe und G"tteshingabe: Hier
bin ich, "Hinneni" heißt das im Hebräischen, und
das Gebet erreicht im Worte „echad“ seine höchste Intensität.
„Hinneni“, „hier bin ich“; diese Selbstpreisgabe und – hingabe findet
sich nicht zufälligerweise an prominenter Stelle im Tanach: so z.B.
antwortet Abraham, als der Engel G"ttes ihn ruft und von der Absicht,
den Sohn, den einzigen und geliebten, zu töten, zurückruft. So auch
antwortet Jesaja, als er von G"tt berufen wird. An dieses biblische
„Hinneni“ der Selbst-Überlassung vor dem Ewigen kann man denken, wenn
man zum Wort „echad“ kommt oder über es meditiert.
G"tt ist Einer und einzig, und ER will mich ganz. Einheit und Ganzheit
gehören zusammen.
Sowohl die Sprache des jüdischen Glaubensbekenntnisses (Dtn 6, 4-9)
als auch die leibliche Praxis des Gebetes vollziehen diese ganzheitliche
Inanspruchnahme.
Aber
ich bin doch keine Jüdin, da oben auf der Empore in der Roonstraße
oder in welcher Synagoge auch immer. Mich geht doch das „Schma“
nicht unmittelbar an. Und trotzdem sage ich, daß mich
die Liebe G"ttes zu Israel unbedingt angeht, nicht unmittelbar,
aber unbedingt.
Mittelbar,
denn ein glücklicher biographischer Zufall hat mich an die Seite Israels
geführt, dafür bin ich dankbar, aber ich spare die Mystifikation.
Unbedingt: ja, insofern ich alles, was mich zu G"tt zieht,
was mich trägt und stärkt, alles, was ich an G"tt erkannt habe, aus
Seiner Beziehung zu Seinem Volk erfahren habe. Ich weiß mir G"ttes
Liebe – wir traktierten gestern den Satz „Gott ist die Liebe“ – nicht
anders zu erhellen als im Blick auf seine Liebe zu Israel, daran bewährt
sich für mich all mein Reden von G"tt, da bekommt es Wärme und Farbe,
wie in Goethes „Kirchenfensterscheiben-Gedicht“, von innen besehen.
Unbedingt,
aber nicht unmittelbar: nicht ich, nicht wir, die Nicht-Juden und
Nicht-Jüdinnen, sind die Erstgeliebten; wir sind nicht G"ttes Erste
Liebe. Und trotzdem, ich kann mich über alle Maßen an G"ttes Rede
und Erster Liebe zu Israel freuen. Warum und wie das möglich ist?
Vielleicht geht da etwas vom Wesen der Liebe auf, nämlich sich freuen
zu können, unbedingt und vorbehaltlos, an G"ttes Ja-Wort zu einem
Anderen, der wir nicht sind.
Freude und Dank und Segensspruch und Lobgesang jeden Tag also über
Israels Erwählung und dann und deshalb auch über Jesus, den Sohn aus
Israel, der zunächst für die Seinen, dann aber auch zu uns Heiden
kommt.
Und
so kann ich singen:
„Das
ist das Licht der Höhe,
das ist der Jesus Christ, der Fels, auf dem ich stehe, der diamanten
ist, der nimmermehr kann wanken, der Heiland und der Hort, die Leuchte
der Gedanken, die leuchten hier und dort.“ (4. Strophe des Liedes
EG 357).
Link und Literatur 

1)
Erfahrung, die aufhört, Erfahrung zu sein -
Jenseits
von wissenschaftlicher und
lebensweltlicher
Erfahrung: Luther - Barth - Levinas
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Schma
Jisrael
hebräisch
- deutsche Übersetzung
"Schma"
als PDF-Datei
Osten-Sacken,
Peter von der
Katechismus
und Siddur - Aufbrüche mit Martin Luther und den Lehrern Israels
Veröffentlichungen
aus dem Institut Kirche und Judentum, 503 S. Berlin 1994 2.
überarb. Auflage
Siddur
Schma Kolenu
übersetzt von Raw
Joseph Scheuer. Neues, klar geordnetes übersetztes Gebetbuch in
moderner hebräischer Schrift und Übersetzung, 750 S.,
Morascha Verlag, CH - Basel
Andacht
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